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Aufgabenstellung:
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Thema: Strukturen sozialer Ungleichheit in Deutschland — Erodiert die Mitte der
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Gesellschaft?
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1. Analysieren Sie die Aussagen des Autors zur sozialen Ungleichheit in Deutschland im
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Hinblick auf soziale und ökonomische Faktoren für den „Wohlstand für wenige“.
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(30 Punkte)
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2. Stellen Sie je ein Modell vertikaler und horizontaler Ungleichheit dar und ordnen Sie
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Fratzschers Analyse zur sozialen Ungleichheit in diesen theoretischen Zusammenhang
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ein. (26 Punkte)
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3. Gestalten Sie in der Rolle eines sozialwissenschaftlichen Experten / einer sozialwissen-
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schaftlichen Expertin ein Positivszenario zur zukünftigen Entwicklung von sozialer
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Ungleichheit für die „Menschen in der Mitte der Gesellschaft“ (Z. 34 f.). Beziehen Sie
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dabei eine mögliche Strategie/Maßnahme (z. B. sozial-, arbeitsmarkt-, familien- oder
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bildungspolitische) und deren mögliche Auswirkungen ein. (24 Punkte)
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Materialgrundlage:
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e Marcel Fratzscher: Wohlstand für wenige. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom
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19.03.2016
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http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/arm-und-reich/fratzscher-mehr-steuern-sind-nicht-
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die-loesung-gegen-ungleichheit-14121273.html (Zugriff am 20.04.2017)
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(Auszug; für die bessere Lesbarkeit sind Zwischenüberschriften entfernt, leichte Verände-
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rungen vorgenommen und durch eckige Klammern kenntlich gemacht worden)
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Zugelassene Hilfsmittel:
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e Wörterbuch zur deutschen Rechtschreibung
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e Herkunftssprachliches Wörterbuch für Studierende, deren Herkunftssprache nicht
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Deutsch ist
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Marcel Fratzscher
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Wohlstand für wenige
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[...]
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Das Erhardsche Ziel „Wohlstand für alle“ ist heute nurmehr eine Illusion. Deutschlands
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soziale Marktwirtschaft, wie wir sie über sieben Jahrzehnte gekannt haben und in der die
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soziale Sicherung aller Bevölkerungsgruppen gewährleistet war, existiert nicht mehr. [...]
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Die neue deutsche Marktwirtschaft zeigt ihr wahres Gesicht in einer stark zunehmenden
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Ungleichheit. [...]
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Als Erstes zeigt sich das „Vermögens-Puzzle“: Deutschland ist ein reiches Land, mit einem
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Pro-Kopf-Einkommen, das zu den höchsten der ganzen Welt gehört. [...]
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Das Vermögen vieler Deutscher ist jedoch erheblich niedriger als das ihrer Nachbarn. Es
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zählt zu den niedrigsten in ganz Europa und ist weniger als halb so groß wie das anderer
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Europäer. [...]
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Gleichzeitig sind die Vermögen höchst ungleich verteilt. In keinem anderen Land der Euro-
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zone ist die Vermögensungleichheit höher. Die ärmere Hälfte unserer Bevölkerung verfügt
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praktisch über gar kein Nettovermögen. Falls die Menschen Vermögenswerte besitzen, sind
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Schulden und andere Verpflichtungen fast ebenso groß. Aber auch an der Spitze der Vermö-
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genspyramide ist Deutschland extremer als seine Nachbarn: In kaum einem Land in Europa
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besitzen die reichsten 10 Prozent der Bevölkerung größere Vermögenswerte. [...]
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Das zweite Puzzle ist das „Einkommens-Puzzle“, Nicht nur bei den Vermögen, auch bei Löh-
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nen und Einkommen ist das „Soziale“ der deutschen Marktwirtschaft in den vergangenen Jahr-
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zehnten in den Hintergrund getreten. Die Schere zwischen hohen und niedrigen Einkommen
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im Land klafft immer weiter auseinander. Rund die Hälfte der deutschen Arbeitnehmer musste
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zusehen, wie ihre Löhne in den vergangenen 15 Jahren an Kaufkraft verloren.
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[...]
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Das dritte Puzzle ist das „Mobilitäts-Puzzle‘“. Menschen mit niedrigem Einkommen und einem
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geringen Vermögen schaffen es ungewöhnlich selten, sich finanziell deutlich zu verbessern
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und „sozial aufzusteigen“. [...]
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Diese geringe Mobilität wirkt auch über Generationen hinweg: In kaum einem anderen Land
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beeinflusst die soziale Herkunft das eigene Einkommen so stark wie in Deutschland. In kaum
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einem anderen Land bleibt Arm so oft arm und Reich so oft reich — über Generationen hin-
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weg. Die Hälfte des Einkommens eines Arbeitnehmers in Deutschland wird durch das Ein-
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kommen und den Bildungsstand der Eltern bestimmt. [...] Kinder aus einkommens- und ver-
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mögensschwachen Haushalten schaffen es nur selten, sich deutlich besserzustellen als die
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Eltern. Diese bereits geringe Mobilität hat in den vergangenen Jahrzehnten sogar noch abge-
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nommen.
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Einer der größten Verlierer dieser Entwicklung ist die deutsche Mittelschicht. Es sind die Men-
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schen in der Mitte der Gesellschaft, deren Jobs in Gefahr sind, deren Löhne schrumpfen, die
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nur geringe Möglichkeiten haben, Vorsorge zu betreiben und Vermögen aufzubauen. [...]
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Die Ungleichheit in Deutschland hat viele Gesichter. Frauen, Bewohner ländlicher Regionen,
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Ostdeutsche, Migranten, Menschen aus sozial schwachen und bildungsfernen Familien, Allein-
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erziehende, Alte und Kinder — sie alle sind deutlich schlechter gestellt. Deutschland ist schon
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lange kein Land mehr, das „Wohlstand für alle“ bietet. Aus dem „Wohlstand für alle“ ist ein
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„Wohlstand für wenige“ geworden.
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[...]
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Diese Ungleichheit erhöht die Armut. Sie lässt die soziale und politische Teilhabe im Land
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schwinden und auch die Vorsorge der Menschen. Sie verschlechtert die Gesundheit und
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dämpft die Lebenszufriedenheit, verstärkt die Abhängigkeit vieler Bürger vom Staat und
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liefert Zündstoff für zunehmende soziale Konflikte. [...]
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Deutschlands Problem ist aber nicht, dass der Staat heute nicht genug umverteilt. Er verteilt
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tendenziell eher zu viel um. Steuern und Abgaben sind außergewöhnlich hoch im internatio-
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nalen Vergleich. Mehr Umverteilung ist keine Lösung. Im Gegenteil: Der deutsche Staat sollte
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eher weniger umverteilen, dafür aber die Umverteilung effizienter gestalten, um die wirklich
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Bedürftigen zu erreichen. Die Verteilungspolitik in Deutschland ist sehr ineffizient und schafft
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es zu selten, der Gesellschaft und Wirtschaft als Ganzes zu nutzen. Ein großer Teil der Umver-
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teilung heute geschieht im Interesse und zum Nutzen einiger weniger. Viel zu viel wird heute
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von Bessergestellten zu den gleichen Bessergestellten umverteilt.
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[...]
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Das führt zu zwei zentralen Schlussfolgerungen. Die erste: Ein Bekämpfen der Ungleichheit
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und ihrer Auswirkungen liegt im Interesse aller, nicht nur einiger weniger. Zweitens: Die feh-
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lende Chancengleichheit ist Deutschlands größtes Problem. Es ist höchst ineffizient und kon-
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traproduktiv, Menschen ihrer Chancen und Möglichkeiten zu berauben, damit der Staat dann
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über Steuern und Sozialleistungen versucht, einen Teil dieses durch den Raub entstandenen
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Schadens wieder auszugleichen. [...]
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Statt wie so oft in der Ungleichheitsdebatte unser Augenmerk auf eine höhere Umverteilung
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über Steuern und Sozialleistungen zu legen — etwa mit Reichensteuern, Mütterrenten und
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Ähnlichem —, benötigen wir in Deutschland ein fundamentales Umdenken: eine Kehrtwende,
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bei der die Anstrengungen darauf abzielen, die Chancenungleichheit zu minimieren, die Chan-
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cen zu maximieren. Dies würde zu weniger Ungleichheit bei Vermögen und Einkommen
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führen. [...] Und es würde den Kuchen für alle größer machen: Das Wirtschaftswachstum
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würde steigen und damit auch der Wohlstand — dann aber wieder für alle und nicht nur für
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wenige.
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Zum Autor:
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Marcel Fratzscher ist Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) und Professor
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für Makroökonomie und Finanzen an der Humboldt-Universität Berlin.
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